Weniger ist mehr: Das Konzept der De-Implementierung

Eine „Mehr-ist-besser“-Logik im Bildungssystem führt zu einer Überfrachtung der Schulen mit Programmen und Maßnahmen – oft ohne empirische Wirksamkeitsprüfung.
De-Implementierung bezeichnet nach Wisniewski und Gottschling (2025) einen evidenzbasierten und systematischen Prozess, bei dem dysfunktionale Praktiken – also Maßnahmen, Programme oder Routinen mit geringem oder keinem nachweisbaren Nutzen – bewusst reduziert oder vollständig entfernt werden. Ziel ist es, durch das Weglassen ineffektiver oder belastender Elemente schulische Qualität zu steigern, Ressourcen zu schonen und neue Freiräume für wirksamere Maßnahmen zu schaffen. Dabei handelt es sich um eine subtraktive Strategie, die nicht einfach „weniger tun“ meint, sondern auf fundierter Analyse basiert und sowohl Entlastung als auch Qualitätsgewinn anstrebt.
Beispiele für De-Implementierung
Anhand aktueller Erkenntnisse der Bildungsforschung nennt Wisniewski (2025) konkrete Beispiele für Praktiken, deren Sinn und Nutzen sich empirisch nicht bestätigen lässt, deren Infragestellung aber häufig auf Widerstand und Abwehrreaktionen bei Lehrkräften stößt. Hierzu zählen u. a. Korrekturen von Übungsaufgaben in Fremdsprachen, die laut der Meta-Analyse von Truscott (2007) kaum Einfluss auf die Qualität der Sprachproduktion haben. Auch die Klassenzimmerdekoration sei nicht immer für das Lernen förderlich, denn zu viel könne die Aufmerksamkeit der Schülerinnen und Schüler mindern. Ebenso erzielen auch einmalige Fortbildungen laut Wisniewski nur geringe nachhaltige Wirkung auf Kompetenzen oder den Lernerfolg.
Hören Sie hierzu auch das Gespräch mit John Hattie:
Podcast: De-Implementierung. Gespräch mit John Hattie. Quelle: mundo, Psychologie fürs Klassenzimmer
Abrufbar unter: https://www.mundo.schule/details/SODIX-0001113756
Systemische Ursachen: Warum fällt das Weglassen so schwer?
Eine Studie von Adams/Converse/Hales & Klotz (2021) zeigt, dass Menschen additive Lösungen bevorzugen. Im Schulsystem wird Qualität häufig über Quantität definiert: „Only a busy teacher is a good teacher.“ Lehrkräfte betonen oft ihre hohe Arbeitsbelastung als Qualitätsnachweis.
Anknüpfend an John Hattie und den De-Implementation Guide “Making Room for Impact” (2023) stellt sich die Frage: „Warum versuchen wir nicht etwas Bewährtes aufrechtzuerhalten oder eine Herausforderung zu lösen, indem wir etwas anderes entfernen?“ Dunsmore et al. (2023) sprechen hierbei von der gezielten Entfernung sogenannter „Low value practices“, die keinen oder sogar negativen Einfluss auf das Lernen haben.
Handlungsempfehlungen für Schulen und Schulträger
Wisniewski (2025) schlägt folgende Maßnahmen zur De-Implementierung vor:
- Für Lehrkräfte: Analyse der Arbeitszeit, kooperative Materialerstellung, Nutzung vorhandener Ressourcen, zeitsparendes Feedback.
- Für Schulleitungen: Anreizsysteme für Effektivität statt Aufwand, Entfernung unwirksamer Maßnahmen, neue Programme nur bei gleichzeitiger Streichung alter.
- Für Schulverwaltungen: Keine verpflichtenden Maßnahmen ohne Wirksamkeitsnachweis, Zugang zu Forschungsergebnissen, Integration subtraktiver Ziele in die externe Evaluation.
Fazit: Mut zur Reduktion als strategische Schulentwicklung
De-Implementierung erfordert Mut zum Umdenken – bietet aber das Potenzial, Schule nachhaltiger, gesünder und wirksamer zu gestalten (siehe auch: Artikel im Deutschen Schulportal, 18. März 2025).
Literaturhinweise:
Adams, G. S., Converse, B. A., Hales, A. H., & Klotz, L. E. (2021). People systematically overlook subtractive changes. Nature, 592(7853), 258-261.
Dunsmore, J., Duncan, E., MacLennan, S., N’Dow, J., & MacLennan, S. (2023). Effectiveness of de-implementation strategies for low-value prescribing in secondary care: a systematic review. Implementation Science Communications, 4(1), 115. Abrufbar unter: https://implementationsciencecomms.biomedcentral.com/articles/10.1186/s43058-023-00498-0
Hamilton, A., Hattie, J., & Wiliam, D. (2023). Making room for impact: A de-implementation guide for educators. Thousand Oaks: Corwin.
Truscott, J. (2007). The effect of error correction on learners’ ability to write accurately. Journal of second language Writing, 16(4), 255-272. Abrufbar unter: https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S1060374307000355
Wisniewski, B. (2025). De-Implementierung – Was Schulen fehlt, ist der Mut zum Weglassen. Deutsches Schulportal. Abrufbar unter: https://deutsches-schulportal.de/expertenstimmen/was-schulen-fehlt-ist-der-mut-zum-weglassen/
Wisniewski, B. & Gottschling, B. (2025): Weniger macht Schule: Wie De-Implementierung schulische Freiräume schafft. Stuttgart: Kohlhammer.